Sonntag, 14. August 2011

Heute beim Bücherhöker auf einem Berliner Flohmarkt

(Rabenai hat den Band 2 einer schönen Messerklärung aus den 1920er Jahren gefunden. Vergeblich auf der Suche nach Band 1, spricht er unvorsichtigerweise sein Gegenüber an.)

- Entschuldigung, haben Sie hier zufällig irgendwo den dazugehörigen Band 1 gesehen?

-- Wasndas?

- Eine Messerklärung.

-- Katholisch? Achduscheiße. Sowasmiteurythmieoderso?

- Sie meinen Eucharistie?!

-- Nadiesachemiterverwandlung. Woausbrotfleischwird. Echtmakaber. Absolutevolksverdummung.

- Also ich finde, das kann man...

-- Außerdemisdaskannibalismus. Widerlich. Siemüssendochperverssein. Wersowasheutenochglaubtisblöde. (Geht weg.)

- ...?

-- (Kommt zurück.)Schwachkopf.

(Rabenai überlegt, ob er dem Mann eins auf die Nuss gibt, oder ob er für ihn betet. Wählt die zweite Möglichkeit.)

Mittwoch, 10. August 2011

Peter Altenberg, wunderbar ediert

Das Buch der Bücher von Peter Altenberg
Zusammengestellt von Karl Kraus
Herausgegeben von Rainer Gerlach
M. e. Essay von Wilhelm Genazino
3 Leinenbände, zus. 1006 Seiten
Wallstein Verlag 2009
ISBN 978-3-8353-0409-3
Euro 49,00




Was für ein Glücksfall! Altenberg ist vor 90 Jahren drüber gestorben, Kraus ist vor 70 Jahren drüber gestorben, der ehrenwerte Versuch der Verlage Löcker und Fischer ist vor 20 Jahren abgestorben – doch jetzt ist sie da, die (Beinahe-) Gesamtausgabe des Großmeisters der kleinen Form der Wiener Moderne.

Dank, Dank, Dank dem Göttinger Wallstein Verlag, der es unternommen hat, diesen Schatz der deutsch-österreichischen Literatur als gemeinsame Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der verdienstvollen Wüstenrot Stiftung zu heben.

Der Fackel-Herausgeber und Altenberg-Verehrer Karl Kraus höchstselbst hatte sich 1928 darangemacht, diese nun wirklich repräsentative Auswahl des Fin de Siècle-Genies P. A. zusammenzustellen. Doch die Unmöglichkeit, sich mit dem Originalverlag über die Rechte zu einigen, hatte das Vorhaben scheitern lassen.

Jetzt aber wird das „Genie der Nichtigkeiten“ (Kafka) mit Macht wieder entdeckt. Nachdem kürzlich schon der Manesse Verlag eine von Burkhard Spinnen benachwortete Neuedition von „Wie ich es sehe“ lanciert hat, nun also bei Wallstein der fast ganze Altenberg (1859-1919) zum 150. Geburtstag.

Um bisherigen Altenberg-Ignoranten deutlich zu machen, was sie jetzt wieder wie ganz selbstverständlich zur Hand nehmen können, hier einige Zeilen, sozusagen als literarisches Amuse-Gueule:

Im Volksgarten
»Ich möchte einen blauen Ballon haben! Einen blauen Ballon möchte ich haben!«
»Da hast du einen blauen Ballon, Rosamunde!«
Man erklärte ihr nun, dass darinnen ein Gas sich befände, leichter als die atmosphärische Luft, infolgedessen etc. etc.
»Ich möchte ihn auslassen – – –« sagte sie einfach.
»Willst du ihn nicht lieber diesem armen Mäderl dort schenken?!?«
»Nein, ich will ihn auslassen – – –!«
Sie lässt den Ballon aus, sieht ihm nach, bis er verschwindet in den blauen Himmel.
»Tut es dir nun nicht leid, dass du ihn nicht dem armen Mäderl geschenkt hast?!?«
»Ja, ich hätte ihn lieber dem armen Mäderl geschenkt!«
»Da hast du einen andern blauen Ballon, schenke ihr diesen!«
»Nein, ich möchte den auch auslassen in den blauen Himmel!« – Sie thut es.
Man schenkt ihr einen dritten blauen Ballon.
Sie geht von selbst hin zu dem armen Mäderl, schenkt ihr diesen, sagt: »Du, lasse ihn aus!«
»Nein,« sagt das arme Mäderl, blickt den Ballon begeistert an.
Im Zimmer flog er an den Plafond, blieb drei Tage lang picken, wurde dunkler, schrumpfte ein, fiel tot herab als ein schwarzes Säckchen.
Da dachte das arme Mäderl: »Ich hätte ihn im Garten auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut, nachgeschaut – – –!«
Währenddessen erhielt das reiche Mäderl noch zehn Ballons und einmal kaufte ihr der Onkel Karl sogar alle dreißig Ballons auf einmal. Zwanzig ließ sie in den Himmel fliegen und zehn verschenkte sie an arme Kinder. Von da an hatten Ballons für sie überhaupt kein Interesse mehr.
»Die dummen Ballons – – –« sagte sie.
Und Tante Ida fand infolgedessen, dass sie für ihr Alter ziemlich vorgeschritten sei!
Das arme Mäderl träumte: »Ich hätte ihn auslassen sollen, in den blauen Himmel, ich hätte ihm nachgeschaut und nachgeschaut – – –!«

Hingetupft, leicht, verträumt.  – Bei Turgenjew nennt man so etwas „Gedicht in Prosa“.

Anhand von Kraus’ Arbeitsexemplaren hat Rainer Gerlach dessen Auswahl rekonstruiert. Aus seiner Feder stammen auch die instruktiven Anmerkungen und das kluge Nachwort mit der schönen Überschrift „Die Geburt des Schriftstellers Peter Altenberg aus dem Geist des Kaffeehauses“. Ein herrlicher Text, der es verdient hätte, nicht am Ende des dritten Bandes, sondern am Beginn des ersten, anstelle des geschmäcklerisch violett gedruckten Essays von Wilhelm Genazino, zu stehen.

Rabenais Fazit: Auch wenn er einige P. A.-Texte Kraus-halber schmerzlich vermissen muss („Ashantee“ z. B.), auch wenn er sich über die merkwürdige Fotoanordnung auf den Vorsätzen wundert: Die drei Bände sind großartig! Lars Rabenai wird bei nächster Gelegenheit, wenn er wieder in der American Bar im Kärntner Durchgang in Wien unter seinem Lieblingsbildnis des geschätzten Autors sitzt, einen Schmollis auf Kraus, Gerlach, Wallstein und Co. trinken.